Betrachtungen
über eine zahnmedizinische Problem-Zone
Schwierigkeiten bei der Formulierung
Das Kiefergelenk ist ein ungewöhnliches
Gelenk. Keine andere bewegliche Verbindungsstelle
im Körper, um es einmal unverbindlich zu formulieren, weist eine
derartige Konfiguration auf.
Das Kiefergelenk ist das einzige Gelenk,
das als Paar fungiert. Über den Unterkiefer sind beide Gelenke auf
Gedeih und Verderb miteinander verbunden. Fast wie siamesische Zwillinge.
Wenn sich das eine bewegt, muss sich zwangsweise das andere mitbewegen.
Eine
Schicksalsgemeinschaft also.
Wie soll man es also bezeichnen? Als
die Kiefergelenke? Oder als Unterkiefer-Doppelgelenk,
was eigentlich treffender wäre? Oder als das rechte und linke Kiefergelenk?
Die Schulzahnmedizin macht sich in
der Regel diese Gedanken nicht. Und um nicht noch mehr Verwirrung
zu stiften, bleiben wir überwiegend bei der klassischen Formulierung
Das Kiefergelenk" im Singular, wollen aber die eben angeschnittenen
Gedanken im Hinterkopf behalten.
Funktionen des Kiefergelenks
Das Kiefergelenk ist eines der am meisten
funktionell strapazierten Gelenke. Denn wir brauchen es
- Zum Sprechen
- Zum Kauen
- Zum Knirschen
- Zum Abstützen
Beginnen wir mit dem ersten Punkt.
Wenn Sie nicht gerade zu den grossen Schweigern oder
Mundfaulen gehören, dann sind die Kiefergelenke bei der Formung
der Worte, die die Zunge,
die Zähne und der Rachen ausbilden, ständig mitbeteiligt. Das lateinische
Wort Articulatio
(in diesem Fall temporo-mandibularis) finden wir nämlich wieder
in unseren Wörtern
artikulieren" und Artikulation". Artikulieren
bedeutet soviel wie deutlich und betont aussprechen".
Wer also seine Kiefergelenke schont und den Mund nicht aufmachen
will, der hat eben eine
undeutliche und verwaschene Sprache.
Ebenso wie Gelenke eine Art Kommunikation
zwischen verschiedenen Körperbereichen darstellen, so dient die
Bewegung der Kiefergelenke beim Sprechen im Sinn einer klaren Sprache
der verbalen Kommunikation.
Wer nuschelt, wird schlecht verstanden. Man wendet sich ab.
Über die Funktion der Kiefergelenke
bei ihrer eigentlichen Tätigkeit, dem Kauen, sind
unglaublich viele Untersuchungen durchgeführt worden. Mit mechanischen
Geräten wurden
früher die Informationen der Kieferbewegungen abgenommen und auf
Platten sichtbar gemacht.
Später kamen elektronische Vermessungsgeräte hinzu.
Es wurde Kontrastflüssigkeit in den Gelenkspalt gespritzt und röntgenologisch
bei Bewegungen kontrolliert.
Die Neugierde der Schulmedizin ist zwar verständlich, aber aus der
Retrospektive muß ich
heute so manche Methode als unmenschlich bezeichnen.
Eines war all diesen Untersuchungsmethoden
gemeinsam: Man gewann eine große Flut
diagnostischer Daten. Und das wars dann!
Die Therapie geriet zu einem dünnen Rinnsal, gemessen an den Kosten
und dem Aufwand
der Untersuchung.
Betrachten wir daher erst einmal die Anatomie.
Im großen und ganzen kann man das Kiefergelenk
in vier Bereiche aufteilen:
- Gelenkpfanne (Fossa mandibularis)
im Schläfenbein
- Gelenkköpfchen am aufsteigenden
Ast des Unterkiefers
- Knorpelscheibe zwischen beiden
(Discus articularis)
- Muskulatur, die über die Bewegung
des Discus und des Unterkiefers eine
Auswirkung auf das Gesamtgefüge hat
Diese vier Komponenten müssen in einem
gesunden Gelenk miteinander harmonieren und
das auch noch beidseits.
Viele Probleme, die unter der Flagge
Kiefergelenk aufgelistet sind, sind mehr Störungen
der gesamten Kaumuskulatur, so daß man also den mehr passenden Ausdruck
Myoarthropathie"
verwenden sollte.
Aus konventioneller Sicht kommen für
Erkrankungen in diesem Bereich, wenn wir einmal
Mißbildungen und das pathologische Knirschen außer Betracht lassen,
folgende iatrogene
Hauptfaktoren in Frage:
Ungenügende
oder falsche kieferorthopädische Behandlung im Kindes- oder
Erwachsenen-Alter
Fehlerhafte Füllungstherapie im Seitenzahnbereich
Unzulängliche Kronen-Brücken-Prothesen-Versorgung
Da über das Kiefergelenk eine Unmenge
herkömmlicher Literatur besteht, möchte ich mich in
diesem Artikel mehr mit den ganzheitlich-biologischen Bereichen
auseinandersetzen.
Vorab sei noch der dritte oben aufgeführte
Punkt erwähnt: Das Knirschen.
Dieses Phänomen des Knirschens und
Pressens (Fachjargon: Bruxismus) ist ein häufig
ungeklärtes, unkontrolliertes Arbeiten der Zahnreihen gegeneinander.
Da die Zähne die
härteste Substanz im Körper sind, kann es vorkommen, daß der Schuß
nach hinten" losgeht,
so daß das Kiefergelenk als die weichere Substanz durch diese Malfunktionen
in Mitleidenschaft
gezogen wird. Achten Sie einmal auf Ihre lieben (oder weniger lieben)
Mitmenschen: Wie sie
Kaumuskeln ständig bewegen, wie sie die Kiefer aufeinanderpressen,
besonders bei
Dis-Stress.
Beim vierten Punkt geht es um die Einbindung
beim Schluckakt. Der Mensch soll angeblich
pro Tag ca 2000 mal schlucken. Dabei treten jedesmal die Zahnreihen
in Kontakt. Auch das
ist für die Gelenke eine Belastung.
Kiefergelenk und Symbolik
Sämtliche Gelenke haben symbolhaft
etwas mit dem Thema Verbindung, Verknüpfung und
Beweglichkeit zu tun. Dies gilt uneingeschränkt auch für die Kiefergelenke.
Aus einer symbolhaften Schau steht
hinter jedem Organ eine metaphysische Idee, eine Art
gleichnishafte Materialisierung.
Der Oberkiefer hat eine Beziehung zum
Starren und Festen, aber auch zur nüchternen Ratio
und zum Intellekt. Der Unterkiefer hingegen ist mehr mit der Emotio,
dem Animalischen und
Triebhaften verknüpft. Daher flößen uns Menschen mit einem ausgeprägten
Unterkiefer
(Fachwort: Progenie) immer etwas Unbehagen und Furcht vor Unberechenbarkeit
ein.
Das Kiefergelenk hat nun die alles
andere als leichte Aufgabe, diese so konträren Gesellen"
unter einen Hut und zu einer Symbiose zu vereinen. Um ein Wort aus
der astrologischen
Betrachtungsweise zu entlehnen: Ein Waage-Phänomen.
Das Kiefergelenk ist auf Harmonie bedacht.
Daher wird ein Mensch, der die beiden
Pole Verstand und Gefühl einigermaßen in sich
vereinigen kann, wesentlich weniger zu Kiefergelenksproblemen oder
sagen wir umfassender Myoarthropathien neigen als ein Mensch mit
einer diesbezüglichen Dysbalance. Letzteres
dürfte vielleicht ein Grund für die Zunahme der Myoarthropathien
sein.
Kiefergelenkerkrankungen und Bioenergetik
Den oben erwähnten Ursachen"
für den Gesamtkomplex Kiefergelenks-erkrankungen
/ Myoarthropathien wollen wir einen zweiten Ursachen"-Bereich
hinzufügen.
Man kann ihn als idiopathisch bezeichnen, da die Zusammenhänge vordergründig
nicht
sichtbar sind.
Diese Betrachtung fußt auf dem Wissen um die Akupunktur-Meridiane
und deren Verlauf.
Es kämen folgende Zusammenhänge in Frage
- Störungen auf dem Magen-Pankreas-Meridian
- Störungen auf dem endokrinen /
hormonellen Meridian
- Mit Einschränkung: Störungen auf
dem Leber-Gallenblasen-Meridian
- Nur bedingt, aber möglich: Störungen
auf dem Dünndarm-Meridian
Interessant ist überhaupt ein Blick
auf einen Akupunktur-Atlas. In der Nähe von Gelenken finden sich
immer vermehrt Akupunktur-Punkte, eine Tatsache, die uns doch auf
die Wichtigkeit der Gelenke hinweisen sollte.
Auf den Meridianen, gedachten Verbindungslinien
zwischen den perlenkettenartig angeordneten Akupunktur-Punkten,
fließt oder zirkuliert die Energie. Ist der Fluß der Energie durch
irgendwelche Vorkommnisse behindert, so kommt es zu Störungen meistens
an den Punkten, die mit funktionell stark beanspruchten Organen
korrelieren. Dr. Voll nannte damals schon den Schmerz, der eine
Folge sein kann, den Schmerz als einen Schrei des Gewebes nach fließenderEnergie.
So stimmt es nicht verwunderlich, wenn
man weiß, daß ein Großteil der Patienten mit funktionellen Störungen
bis hin zu Schmerzen im Bereich Kiefergelenk / Muskulatur sich aus
weiblichen Patienten rekrutiert. Meistens stammen sie aus der Altersgruppe
vor, während und nach der Menopause, d.h. wenn es also zu tiefgreifenden
Umstimmungen im Hormonhaushalt der Frau kommt und sie die von der
Natur zugeordnete Rolle des Empfangens und Gebärens nicht mehr erfüllen
kann.
Der Punkt Endokrinium 23 (oder 21,
das ist abhängig von der Zählweise) liegt über der
Gelenkpfanne des Kiefergelenks.
Psyche und Hormonhaushalt haben eine
innige Beziehung zueinander, wie jeder weiß. So
finden wir Depressionen gerade am häufigsten in diesem Altersabschnitt,
besonders dann,
wenn keine erfüllende Aufgabe vorhanden ist.
Am Ringfinger beidseits endet auf der
Kleinfingerseite der endokrine Meridian und auf der
anderen Seite der psychische Meridian, den VOLL damals als Organdegenerationsmeridian
bezeichnete. Auch daher eine Verwandschaft beider Themen.
Und jetzt kommt das für den Zahnarzt
entscheidende: Beschwerden oder Schmerzen werden
sich immer an einem sog. locus minoris resistentiae zeigen.
Wenn also unbefriedigende Verhältnisse
im Mund vorliegen, die das Kiefergelenk in seiner
Funktion beeinträchtigen, dann vermag der Körper dies für eine gewisse
Zeit kompensieren.
Treten aber weitere Schwächungen" hinzu, beispielsweise
die Probleme des Klimakteriums,
dann bricht das mühsam aufrecht gehaltene System zusammen und wird
sich beschwerdemäßig
an ohnehin geschwächten Punkten entlang des Meridians manifestieren.
Das kann in einem
solchen Fall durchaus das Kiefergelenk mit Umfeld sein.
Ähnliches gilt für den Magen-Meridian,
der mit seinem Punkt Magen 2 auf dem Kiefergelenk-
Köpfchen liegt. Im Unterschied zum hormonellen Meridian finden wir
jetzt bevorzugt das
männliche Geschlecht. Es sind die Männer, denen der berufliche Stress
und die Auswirkungen auf die Ellenbogengesellschaft am Arbeitsplatz
auf den Magen schlagen. Von der Statur her sind sie meist hager
und man kann das Jochbein im Gesicht gut abgezeichnet sehen. Vielfach
sind sie dem Typus des Neurasthenikers zuzurechnen.
Von der Akupunktur-Lehre her zeichnet
sich wiederum ein Zusammenhang ab: Der
Magenmeridian und der Gelenkdegenerations-Meridian (von Voll gefunden)
enden am am
zweiten Zeh. Menschen, deren zweiter Zeh länger ist als der Großzeh,
tendieren ohnehin nach meinen Beobachtungen zu verstärkten Gelenkproblemen.
Der ebenfalls aufgeführte Gallenblasen-Meridian,
der mit dem Leber-Meridian verkoppelt ist,
liegt mit seinem 2. Punkt etwas frontal vom Kiefergelenk über dem
Arcus zygomaticus. Er weist nicht die direkte Verbindung zum Gelenk
auf, verläuft aber mit einer Reihe von Punkten einmal über den Musculus
temporalis (Schläfenmuskel) und über den seitlichen Schädel, bevor
er seine lange Reise bis zum zweiten kleinen Zeh antritt.
Störungen auf diesem Meridian zeigen
sich im Kopfgebiet mehr in Verspannungen dieses
Muskels, der bestimmte Bewegungen des Unterkiefers steuert, ferner
in meist rechtsseitigen
Kopfschmerzen bis hin zu Migräne.
Von geringerer Bedeutung für das Beschwerdebild Myoarthropathie
ist der Dünndarm-Meridian, der hinter dem Kiefergelenk mit seinem
Punkt 19 im Innenohr endet.
Auf diesen Meridian gilt es besonders bei der Anamnese und Untersuchung
zum Thema Tinnitus zu achten, da sich Störungen des Meridians im
Innenohr durch die immer mehr zunehmenden Ohr-Geräusche zeigen können.
Im Gegensatz zu der Meinung anderer Autoren kann ich einen Zusammenhang
zwischen einer insuffizienten Okklusion und dem Tinnitus kaum beobachten.
Bezieht man die eben erwähnten Gedanken,
die in der Elektroakupunktur größtenteils schon
lange bekannt sind, in die Denkansätze für eine Behandlung von Myoarthropathien
und Kiefergelenksbeschwerden mit ein, so wird das Therapiekonzept
etwas reicher, aber auch
umfassender und schwieriger.
Literatur
D. Volkmer Mars im Spiegel - Mythologisch-bissliche Betrachtungen
>>>
D. Volkmer Jenseits der Molaren >>>
|